Wer lebt denn hier über seine Verhältnisse?
Von Stephan Ueberbach, SWR, ARD-Hauptstadtstudio
Liebe Bundesregierung, sehr geehrte Frau Merkel,
wen meinen Sie eigentlich, wenn Sie sagen, wir hätten jahrelang über unsere
Verhältnisse gelebt?
Ich jedenfalls habe das nämlich ganz sicher nicht getan. Ich gebe nur das
Geld aus, das ich habe. Ich zahle Steuern, bin gesetzlich krankenversichert und
sorge privat für das Alter vor. Ich habe mich durch Ihre Abwrackprämie nicht
dazu verlocken lassen, einen überflüssigen Neuwagen zu kaufen, ich bin kein
Hotelier und kein Milchbauer. Und „Freibier für alle“ habe ich auch
noch nie verlangt.
Wer war wirklich maßlos?
Meinen Sie vielleicht die Arbeitslosen und Hartz IV-Bezieher, bei denen
jetzt gekürzt werden soll? Meinen Sie die Zeit- und Leiharbeiter, die nicht
wissen, wie lange sie ihren Job noch haben? Oder meinen Sie die
Normalverdiener, denen immer weniger netto vom brutto übrigbleibt? Haben die
etwa alle „über ihre Verhältnisse“ gelebt?
Nein, maßlos waren und sind ganz andere: Zum Beispiel die Banken, die erst
mit hochriskanten Geschäften Kasse machen, dann Milliarden in den Sand setzen,
sich vom Steuerzahler retten lassen und nun einfach weiterzocken als ob nichts
gewesen wäre.
Mehr Beispiele gefällig?
Zum Beispiel ein beleidigter Bundespräsident, der es sich leisten kann Knall
auf Fall seinen Posten einfach hinzuwerfen – sein Gehalt läuft ja bis zum
Lebensende weiter, Dienstwagen, Büro und Sekretärin inklusive.
Zum Beispiel die Politik, die unfassbare Schuldenberge aufhäuft und dann in
Sonntagsreden über „Generationengerechtigkeit“ schwadroniert. Die von
millionenteuren Stadtschlössern träumt und zulässt, dass es in Schulen und
Kindergärten reinregnet. Die in guten Zeiten Geld verpulvert und in der Krise
dann den Gürtel plötzlich enger schnallen will, aber immer nur bei den anderen
und nie bei sich selbst.
Liebe Frau Bundeskanzlerin, nicht die Menschen, sondern der Staat hat dank
Ihrer tätigen Mithilfe möglicherweise über seine Verhältnisse gelebt. Ganz
sicher aber wird er unter seinen Möglichkeiten regiert.
Mit – verhältnismäßig – freundlichen Grüßen,
Ihr Stephan Ueberbach